Humboldt-Universität zu Berlin - Geschlecht als Wissenskategorie

Forschungsschwerpunkte

1. Die Interrelation von Geschlechter- und Wissensordnung

Nicht erst seit Georges Canguilhem wissen wir von der verborgenen Geschichte wissenschaftlicher Begriffe. So werden in der neueren Wissenschaftsgeschichte seit geraumer Zeit die Dynamik wissenschaftlicher Begriffe und ihr Wandel als Manifestation und Motor der Wissensentwicklung angesehen (Thomas S. Kuhn 1973). Dabei werden wissenschaftliche Begriffe nicht als neutrale ›Behälter‹ für empirische oder logische Sachverhalte aufgefasst, sondern als Konzeptualisierungen, die auf historisch kontingente Vorannahmen, Entscheidungen oder Paradigmen rekurrieren, diese aber (zum Beispiel als diskursive Leerstelle) in der Regel verbergen. In der abendländischen Wissenschaftsgeschichte fungiert die Kategorie Geschlecht als eines der verschwiegenen epistemologischen Fundamente des Wissens.

Nach der Thematisierung kultureller Konstruktionen von Geschlecht in wissenschaftlichen Disziplinen fokussierte das Graduiertenkolleg in der zweiten Förderphase die verschiedenen Dimensionen von ›Wissen‹ selbst. Die intensive methodische Arbeit (speziell im Bereich der Interdependenztheorien), die in der Geschlechterforschung stattfindet, eröffnete neue Einblicke in die verschiedenen Dimensionen der Wissensgeschichte und strukturierte das sich zur Zeit konstituierende Forschungsfeld. Hierbei wurde genauer herausgearbeitet, auf welchen impliziten, individuellen und kollektiven Wissensordnungen von Alltag und Geschlecht Wissenschaft aufbaut. Neben epistemologischen Strukturen wurden kognitive und Sinn konstituierende Dimensionen von Wissen (tacit knowledge, Wissensräume etc.) zu Elementen eines erweiterten Wissensbegriffs erhoben. Eine solche Schärfung und analytische Auffächerung des Wissensbegriffs erlaubte zugleich eine theoretische Präzisierung, wie solche Differenzkategorien (Geschlecht, ›Rasse‹, Behinderung und andere) bei der Formierung von Wissensbeständen ineinandergreifen. Folglich standen hier nicht nur die Geschichte und Theoreme der einzelnen Disziplinen, ihre kategorialen Bezugssysteme, die Herausbildung ihres jeweiligen Kanons im Mittelpunkt des Interesses, sondern auch die Machtbeziehungen, die dieses Wissen ermöglichen, sowie die Subjekteffekte von geschlechtlich codierten Wissensordnungen.

Ein derart erweiterter Wissensbegriffs stellt die Frage nach Transferprozessen neu: Was passiert, wenn ein Geschlechter- oder Differenzwissen von einem (lokalen, nationalen, disziplinären, diskursiven) Kontext in einen anderen transferiert wird? Gerade die Untersuchung der Interrelationen von Geschlechter- und Wissensordnung erlaubte es, interdiskursive und interdependente Übersetzungsprozesse genauer zu beschreiben. Der vergleichende und transdisziplinäre Zugriff des Kollegs ermöglichte es uns, das ›Unbewusste‹ der rationalen Kategorien, ihre vergessenen, verschwiegenen und dennoch wirksamen Elemente zu analysieren und die Transferprozesse zwischen kollektivem und individuellem Wissen aufzudecken.


2. Geschlechtliche Codierung von Wissensobjekten und sozialen Körpern
Der Körper ist ein zentraler Topos der Geschlechterforschung: Einerseits bilden die Unterschiede in der materiellen Beschaffen- und Bedingtheit des menschlichen Körpers den Ausgangspunkt unserer Vorstellungen von Geschlechtlichkeit. Andererseits ist eben diese Materialität und Körperlichkeit der Fluchtpunkt aller empirischen und theoretischen Versuche, geschlechtliche Differenzen als Wissensobjekte heraus- und darzustellen.
In den Lebenswissenschaften, aber auch in anderen Bereichen ist es der physische Körper des Individuums, der in sehr unterschiedlichen historischen Diskursen und Praktiken normativen Regelwerken unterworfen wird. Während wir zunächst die materielle Verfasstheit dieser Körperkonstruktionen beziehungsweise ihre Verkörperung (embodiment) – der psychiatrische Patient, das Geschlecht des/der Behinderten, die Frau im Stammbaum der Brustkrebsgene etc. – in den Mittelpunkt stellten, verfolgten wir in der zweiten Förderphase des Kollegs die Relation zwischen individuellem und sozialem Körper, um zu zeigen, wie sehr beide aufeinander bezogen sind. Ob in Form des »Leviathan« oder der »zwei Körper des Königs«: Der soziale Körper ist immer der Schatten des physischen – oder der physische Körper eine Figuration des sozialen. Es ging mit anderen Worten um die Praktiken der Konstruktion, die medialen Techniken der Repräsentation und die Diskurse der Vermittlung, die den Wissensob- jekten ebenso in den Wissenschaften wie in den kulturellen und alltäglichen Wissensbereichen ein Geschlecht geben.